Vor Zurück Inhalt

 

12. Bedeutung für die emotionspsychologische Forschung

Die in dieser Arbeit vorgestellten Computermodelle von Emotionen sind zu unterschiedlicher Zeit, unter verschiedenen technischen Rahmenbedingungen und zum Teil unter völlig unterschiedlichen Ausgangsbedingungen entstanden. Dennoch verbindet sie eins: Die Überzeugung, daß die Modellierung von Emotionen im Computer zum Wissensfortschritt beitragen wird.

Die emotionspsychologische Forschung hat sich bislang in diesem Bereich bedeckt gehalten. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Vielleicht ist es die Unkenntnis der Entwicklungen in diesem Bereich (zu deren Behebung diese Arbeit einen kleinen Beitrag leisten möchte); vielleicht ist es aber auch die (unbewußte) Überzeugung, daß Emotionen ein zutiefst menschliches Phänomen (und vielleicht das einiger Tierarten) sind, über das eine Maschine nicht verfügen kann.

So wurde und wird das Feld den Informatikern und Robotikern überlassen, deren Grundlage natürlich nicht in erster Linie die psychologische Theorie ist. Da ist es dann ein Leichtes, deren Ansätze zu kritisieren und auf ihre mangelnde psychologische Fundierung hinzuweisen. Das ist ein einfacher, aber auch ein falscher Weg.

Michael Gazzaniga, einer der weltweit führenden Neurowissenschaftler, schreibt in der Einleitung zu seinem letzten Buch:

"Today, the mind sciences are the province of evolutionary biologists, cognitive scientists, neuroscientists, psychophysicists, linguists, computer scientists - you name it. (...) Psychology itself is dead. (...) The odd thing is that everyone but its practitioners knows about the death of psychology."

(Gazzaniga, 1998, S. 11f.)

Ein solches Urteil ist unter anderem dadurch begründet, daß sich viele Psychologen zu lange dagegen gesperrt haben, konstruktiv mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten. Damit haben sie zentrale Fragen der Psychologie, zum Beispiel die nach "Bewußtsein", anderen überlassen. Erst nachdem Philosophen, Informatiker und Neurowissenschaftler die aktuelle Diskussion zu diesem Thema bereits sehr weit vorangetrieben hatten, begannen auch die Psychologen, sich daran zu beteiligen.

Ein ähnliches Schicksal könnte der Emotionspsychologie drohen. Während die Psychologen über Fragen streiten wie: Welche Emotionen gibt es? Gibt es grundlegende und abgeleitete Emotionen? usw. beschäftigen sich Informatiker, Neurologen, Biologen und Philosophen mit der evolutionären Funktion von Emotionen, mit der Entstehung von Emotionen im Gehirn und der Beziehung zwischen Emotionen und Bewußtsein. Auch hier werden viele essentielle Fragen außerhalb der Psychologie gestellt - und die emotionspsychologische Forschung nimmt sie größtenteils nicht zur Kenntnis.

Die Computermodellierung von Emotionen umfaßt, wie die vorliegende Arbeit zeigt, dabei weitaus mehr als "nur" die Implementation einer psychologischen Theorie in ein Computermodell. Sie wirft eine Reihe fundamentaler Probleme auf, die sich auf die Rolle von Emotionen in einem komplexen Gesamtsystem beziehen.

Computermodelle von Emotionen sind für die emotionspsychologische Forschung also unter mehreren Gesichtspunkten interessant, von denen die Überprüfung einer Emotionstheorie anhand eines funktionierenden Modells nur der offensichtlichste ist.

Bereits die Umsetzung einer psychologischen Theorie in ein Computermodell wirft jedoch Probleme auf, die mit der ursprünglichen Theorie zunächst einmal nichts zu tun haben. Die eine Gruppe von Problemen hat zu tun mit der oft mangelhaften Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden Rechner. Frijda erläutert das am Beispiel von ACRES, in dem einige Elemente der zugrundeliegenden Theorie nicht umgesetzt werden konnten; auch Sloman muß bei MINDER1 zu einem Kunstgriff Zuflucht nehmen, um das wesentliche Element seiner Theorie überhaupt im Modell darstellen zu können.

Die zweite Gruppe von Problemen sind Zusätze bzw. Abweichungen von der zugrundeliegenden Theorie, die sich durch pragmatische Lösungen bei der Programmierung des Modells ergeben, ohne daß sie als Bestandteile der Theorie thematisiert würden. Chwelos und Oatley machen das in ihrer Kritik an Scherers GENESE deutlich. Auch Elliott hat die Theorie von Ortony, Clore und Collins für seinen Affective Reasoner um zwei Emotionskategorien erweitert, ohne deutlich zu machen, was diese Erweiterung für die zugrundeliegende Theorie bedeutet.

Reilly schließlich geht noch weitaus radikaler vor, indem er einen ganzen Teil der Theorie von Ortony, Clore und Collins durch ein eigenes Konstrukt ersetzt, das eine Art kognitiver "Abkürzung" bei der Erkennung von Emotionen darstellt. Damit verändert er die Grundannahmen der zugrundeliegenden Theorie natürlich massiv. Allerdings thematisiert er nicht die Auswirkungen dieser Änderungen auf die Theorie von Ortony, Clore und Collins.

Die Modelle von Elliott und Reilly können also, strenggenommen, nicht als Bestätigungen der Theorie von Ortony, Clore und Collins gelten, da beide die theoretischen Grundlagen nicht unverändert übernehmen.

Nun besteht das Interesse von Elliott und Reilly auch nicht in der Überprüfung einer psychologischen Emotionstheorie. Sie greifen lediglich deshalb auf das Emotionsmodell von Ortony, Clore und Collins zurück, weil es einfach operationalisierbar ist. Aber gerade das macht ihren Befund, daß sich das Modell nicht eins zu eins umsetzen läßt, erst recht interessant. Leider ist eine Reaktion von Ortony, Clore und Collins auf diese Änderungen an ihrem Modell und deren Bedeutung für ihre Theorie nicht bekannt.

Computermodelle, die eine psychologische Emotionstheorie überprüfen sollen, stammen von Scherer und Frijda. Insbesondere die Vorgehensweise von Frijda demonstriert sehr schön, welche Wechselwirkung zwischen Theorie und Modell bestehen kann: Nach der Entwicklung seines ersten Modells ACRES erkannte Frijda einige Mängel seiner ursprünglichen Theorie, die er daraufhin modifizierte. Auf Grundlage dieser geänderten Theorie wird derzeit das Computermodell WILL entwickelt, dessen Implementation zu neuen Erkenntnissen führen wird, welche die Theorie entweder bestätigen oder ihre erneute Modifikation deutlich machen.

Neben der Überprüfung von Emotionstheorien sind Computermodelle aber auch aus anderen Gesichtspunkten für die emotionspsychologische Forschung von Interesse. Sie können dabei helfen, Erkenntnisse sowohl über die Funktion als auch über die funktionale Wirkweise von Emotionen zu gewinnen.

Über die Funktion von Emotionen ist viel spekuliert worden. Erklärungen reichen von der Rolle eines überlebenswichtigen Reaktionssystems ohne kognitive Komponenten bis zu hin zu einem Subsystem, ohne das rationale Entscheidungen nicht gefällt werden können. Computermodelle können dabei helfen, hier mehr Klarheit zu schaffen.

So postulieren sowohl Oatley und Johnson-Laird als auch Sloman, daß Emotionen ein Kontrollsystem darstellen, das für ein intelligentes System unabdingbar ist. Eine solche Theorie läßt sich empirisch nur anhand eines Computermodells überprüfen (sofern sie derzeit überhaupt überprüfbar ist).

Neben der Funktion von Emotionen ist auch die funktionale Wirkweise von Emotionen Gegenstand einer Reihe von Spekulationen. Unbestritten scheint, daß dabei eine hedonistische Komponente eine Rolle spielt. Auch theoretische Annahmen über eine solche Wirkweise können derzeit nur anhand eines Computermodells überprüft werden, wie es zum Beispiel Wright versucht.

Pfeifer und eine Reihe anderer Forscher kritisieren an den skizzierten Computermodellen von Emotionen, daß sie einen wesentlichen Faktor außer acht lassen: die Körperlichkeit. Für sie sind Emotionen (und Kognition generell) untrennbar mit einem Körper verbunden. Der radikalste Ansatz besteht dabei darin, Roboter einen evolutionären Prozeß durchlaufen zu lassen, um das Entstehen von Emotionen beobachten zu können. Diesen Robotern werden von vornherein keinerlei vordefinierte oder vorprogrammierte Emotionen mit auf den Weg gegeben.

Es ist unstreitig, daß die Ergebnisse eines solchen Vorgehens sicherlich auch eine Reihe wichtiger Erkenntnisse für die emotionspsychologische Forschung bringen werden, weil es im optimalsten Fall tatsächlich möglich sein wird, die Entstehung eines emotionalen Subsystems im Evolutionsprozeß mitzuverfolgen.

Der Erfolg der Kognitionswissenschaft ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß funktionale Modelle über die Arbeitsweise des menschlichen Geistes entwickelt wurden, die sodann in Computermodellen implementiert wurden. Prominentes Beispiel ist die Erkennung und Verarbeitung visueller Reize. Durch die Konzentration auf den funktionalen Aspekt psychischer Prozesse war es möglich, von der spezifischen Hardware (bzw. Wetware) zu abstrahieren und mit Hilfe der Computer zu Ergebnissen zu gelangen, die ohne diese Umsetzungsmöglichkeit nicht (oder erst sehr viel später) hätten erreicht werden können.

Auch in der psychologischen Theoriebildung gewinnt die Auffassung von Emotionen als funktionalen Phänomenen immer mehr Raum. Damit stellen auch sie einen Forschungsbereich dar, zu dem Computermodelle einen wichtigen Beitrag leisten können.

Natürlich weisen unterschiedliche Emotionstheorien einen unterschiedlichen Grad der Operationalisierbarkeit auf. Die meisten aktuellen Modelle gehören allerdings zur Gruppe der Einschätzungstheorien und entziehen sich damit nicht prinzipiell der Computermodellierung. Zudem entziehen sich viele mit der Entstehung einer Emotion zusammenhängenden Prozesse der Introspektion und damit einem der beliebtesten Werkzeuge der emotionspsychologischen Forschung. Wir sind und zwar darüber bewußt, daß wir etwas hören; wir sind uns aber nicht dessen bewußt, wie unser Gehirn die auf das Trommelfell auftreffenden Schallwellen in etwas umwandelt, das wir als sinnhaften Ton wahrnehmen können. Ebenso sind wir uns häufig darüber bewußt, daß wir uns in einem emotionalen Zustand befinden, aber nicht darüber, wie unser Gehirn und unser Körper diesen Zustand erzeugt haben. Und vor allem: Wir können diesen Zustand nicht bewußt abschalten, ebensowenig wie ein Tinnitus-Kranker das Pfeifen in seinem Ohr durch einen willentlichen Akt beenden kann.

Das Entwickeln von Theorien über diese der Introspektion nicht zugänglichen Prozesse und deren Testen mit Hilfe von Computermodellen kann für die emotionspsychologische Forschung daher von großem Nutzen sein - und damit in der Folge vielleicht auch einmal für Menschen, die unter bestimmten emotionalen Phänomenen leiden.

Die Tatsache, daß sehr viele Impulse der Computermodellierung von Emotionen aus Bereichen wie Philosophie, Künstliche Intelligenz, Robotik oder Neurowissenschaften kommen, bietet eine Chance, das Thema interdisziplinär anzugehen und damit den Horizont des eigenen Fachgebiets und seiner notwendigen Beschränkungen zu überwinden. Dabei hilft es nicht, wenn der eine auf den anderen mit dem Finger zeigt und sich über seine Unkenntnis der emotionspsychologischen Theoriegeschichte oder der Maschinenlernalgorithmen lustig macht. Ein fachübergreifendes Studium der Emotionen kann dem Erkenntnisfortschritt auf diesem Gebiet nur nützlich sein, ohne jedem einzelnen beteiligten Fachgebiet seine ureigene Kompetenz zu nehmen.

Randolph Cornelius schreibt am Ende seines ausgezeichneten Einführungsbuches in die Emotionspsychologie: "Perhaps there is hope for a harmonic convergence after all." (Cornelius, 1996, S. 213) Er bezieht diese Bemerkung auf die von ihm ansatzweise konstatierte Konvergenz zwischen den vier unterschiedlichen theoretischen Herangehensweisen an Emotionen in der Emotionspsychologie. Vielleicht besteht diese Hoffnung ja auch im Hinblick auf eine Konvergenz zwischen den unterschiedlichen Wissensgebieten, die sich heute mit den Emotionen beschäftigen.

Vor Zurück Inhalt